Die Ärmsten der Ärmsten

Wie ihr seht, hinke ich mit meinem Informationsfluss hinterher, weshalb ich versuchen, die Tage etwas zusammenzufassen.

Am Mittwoch fuhr ich das erste Mal mit einem Boda-Fahrer des Hospiz (samt gutem Helm) zur Schule. Dort lernte ich erstmal Joe kennen, den Gründer der Schule, und den Ursprung der „Hands for Hope“.

Vor einigen Jahren baute Joe die Schule zunächst als eine Art Kita auf, nachdem er sah, wie die Kinder im Slum von Namuwongo (bei Kampala) leben. Viele dieser Kinder erreichten nicht einmal ihr 5. Lebensjahr, da sie vernachlässigt oder unterernährt wurden und erkrankten. Er gründete zunächst ein Day Care, um dort zumindest die Kleinkinder mit Nahrung und Betreuung zu verpflegen. Sozialarbeiter gingen also in den Slum und suchten mithilfe eines Fragebogens und bestimmten Kriterien die verwundbarsten Kinder, die die Pflege am nötigsten hatten. Daraus entstand mit der Zeit, je älter die Kinder wurden, eine Schule da Joe und seine Mitarbeiter, die er inzwischen hatte, den Kindern in der Betreuungszeit Bildung bieten wollten. Es handelt sich also um eine Art Kindertagesstätte und Grundschule in einem, angefangen bei Kindern im Alter von 3 bis zu 15 Jahren. In die Schule wurde viel Liebe gesteckt und sie wurde bunt gestaltet. Meine kurze Schilderung wird natürlich nicht der Mühe gerecht, die in die Gründung der Schule, jegliche Hürden und die jahrelange Sponsorensuche gesteckt wurde.

Um das Konzept noch besser zu verstehen, ging ich zusammen mit den drei Sozialarbeitern in den Slum, wo die Schüler herkommen. Und ich muss sagen: Das war meine bisher krasseste Erfahrung hier.

Fotos könnten die Situation nicht einfangen - nicht, dass ich bisher welche gemacht hätte - und Worte können das Geschehen auch nur annähernd beschreiben. Wir liefen von der Schule aus bergab in Richtung eines Marktes. Dort angekommen, begann das Geschlängel. Der Markt bestand aus Obst, Gemüse und Bohnen, der Boden war gehärteter Schlamm und Frauen saßen auf weit ausgebreiteten Plastik-Planen oder standen und sprachen wild miteinander. Auch über uns hingen planen, weshalb wir an manchen Stellen etwas geduckt gehen mussten. Aus dem Markt heraus führte eine Gasse in die Wohnsiedlung, wenn man das so nennen kann. Der Boden bestand weiterhin aus Erde, hartem Schlamm, Matsch oder manchmal eingetretenen Reissäcken gefüllt mit Erde oder auch Lehm. Wir liefen durch kleine Gänge, wobei ich besonders begutachtet und teilweise angestarrt wurde. Immer wieder waren die Wege voller Matsch oder Wasser, weshalb wir auf eine Art Stufe ausweichen oder mit Anlauf drüberspringen mussten. Fast überall hing frischgewaschene, von Wasser triefende Wäsche, an der wir uns vorbeischlängelten. Der Blick wanderte ständig vom Boden - man musste vorsichtig sein, wohin man tritt - nach oben zur Wäsche, zu den Menschen um einen herum, zu den Sozialarbeitern, um hinterherzukommen. Da trafen wir auf die ersten Kinder. „Mzunguuuu! MZUUNGUUUUUuuuu!!!“ schallte es in Kinderchören und teilweise wurde ich von Kindergruppen verfolgt, mir wurde die Hand gegeben, ich wurde umarmt oder es wurde eingeklatscht. Der Gestank nahm immer weiter zu und neben Urin kamen nun auch andere Gerüche auf. Je weiter wir durch die Gänge liefen, desto mehr Menschen begegneten wir: mal machte eine Frau der anderen in einer kleinen „Kreuzung“ die Haare, mal wurden sich an einem Vorhang, der als Tür dienen sollte, die Zähne geputzt, mal saßen Jugendliche zusammen und hörten Musik, mal spielten Männer auf dem Treppenabsatz vor einem Zimmer (was häufig die Wohnung der gesamten Familie war, die nicht selten aus 5 Personen bestand, wenn nicht noch mehr) oder es wurde auf einer Feuerstelle oder einem kleinen Kohlegrill gekocht. Hinter mir hörte ich plötzlich ein Geräusch und bemerkte dann erst die Ziege, die hinter mehr herlief. Ich machte einen großen Satz auf eine Treppenstufe und ließ sie vorbei. Neben Ziegen liefen noch Lämmer und Hähne frei umher. An einer offeneren Stelle angekommen, sahen wir eine Art Bach zwischen den Hütten, die aus Stein und manchmal aus Lehm bestanden und häufig ein Blechdach hatten. Das Wasser hatte sich vom Regen angesammelt, jedoch floss es nicht, weil es voller Müll und Exkrementen war, sowohl von Menschen als auch von Tieren. Das Wasser stand, war bräunlich-grün, sah fast schon giftig aus, und schlug Blasen. Ich war so angewidert, dass ich immer nur so viel versuchte einzuatmen, wie gerade nötig. Zweimal mussten wir über Holzbretter über den „Bach“ balancieren, wobei die Sozialarbeiter wie selbstverständlich vorangingen, während ich hochkonzentriert in Zeitlupe über die notdürftig gebaute Brücke stieg, mit der allergrößten Sorge, dass diese einbricht oder ich ausrutsche und in die Suppe aus den ekelhaftesten Dingen eurer Vorstellungskraft falle. Es ging aber alles gut.

An einer größeren offenen Stelle, von der aus man das Maisfeld auf der anderen Seite sah, auf dem einige Einwohner des Slums arbeiteten, war ein riesiger Berg von Müll, auf dem eine alte Frau nach etwas suchte. Neben ihr ein Lamm und eine Ziege, daneben ein kleines Feuer inmitten des Müllberges. Mir wurde erklärt, dass diese Frau nach brauchbaren Gegenständen suchte, die sie verkaufen könnte. Sie trug zwei unterschiedliche Sandalen und auch sonst zusammengewürfelte Lumpen. Sie ist wohl die Großmutter einer der Schüler. Wir unterhielten uns etwas mit ihr, wobei ich immer nur zuhörte und mir einiges übersetzt wurde, da im Slum kaum einer Englisch spricht. Wir suchten nach manchen Kindern, die nicht zur Schule gekommen waren und überprüften die Wohnsituation potentieller neuer Kinder, die in Zukunft aufgenommen werden sollen. Eine Mutter, die als Prostituierte arbeitet, war nicht auffindbar und sie hatte ihre Kinder bei einer Nachbarin abgegeben. Keiner konnte sagen, wo sie war, obwohl sie eigentlich um diese Zeit zu Hause sein sollte. Im Fragebogen werden Dinge gefragt und nachgeprüft wie: Verdienen die Eltern Geld? Wie viel und womit? Wie viele Kinder gibt es in der Familie? Wie alt sind diese? Ist jemand in der Familie HIV positiv und wird behandelt? Wie oft am Tag bekommen die Kinder zu essen? Manchmal beschränkt es sich auf nur eine Mahlzeit täglich. Bei einer Befragung füllte ich den Bogen aus, während die Sozialarbeiterin fragte und mir die Antworten übersetzte. Eine Frau war z.B. 30 und hatte 5 Kinder. Alle leben in einem kleinen Zimmer zusammen, zwei Kinder schlafen auf der halb-kaputten Couch und die anderen bei der Mutter im Bett. Der Vater ist im Krankenhaus in der Stadt, da er erkrankt ist. Während ich da saß und die Infos in den Bogen schrieb, umkreisten mich zwei der Kinder - ein 2,5jähriges mit einem zu großen T-Shirt mit Löchern an, unten ohne. Keines der Kinder, das ich sah, trug Schuhe.

Nach der Befragung gingen wir weiter und ich hoffte, wir würden bald den Slum verlassen, da nicht nur der Gestank unerträglich war und die Wege teilweise heikel, sondern es fing auch ein wenig an zu regnen und die Kinder, die uns teilweise verfolgten und nicht müde wurden, unentwegt im Sprechgesang „Mzungu Mzungu“ zu rufen, wirkten auf mich inzwischen leicht bedrohlich. Das klingt vielleicht übertrieben, aber das Gefühl war einfach merkwürdig und unangenehm. Beim ersten Mal winkt und lächelt man vielleicht noch, aber irgendwann wurde es mir zu viel.

Wir schlängelten uns aus den schmalen Gassen heraus und es ging Richtung Schienen, wo wir wieder an Marktstände gerieten. Der Slum entstand um Schienen herum und der Zugverkehr dort soll wieder in Betrieb genommen werden, weshalb die Menschen dort bald wegziehen müssen. Wohin bleibt noch offen, derzeit werden kleine Hütten nebenan gebaut, aber bisher sind das noch sehr wenige.

Entlang der Wände lagen im Schatten Ziegen oder auch Menschen und schliefen, die Tiere machten ihr Geschäft irgendwo auf dem Weg, während wir an ihnen vorbeiliefen. An den Marktständen wurde es wieder etwas chaotischer, doch so langsam führte der Weg uns zurück zu einer asphaltierten Straße und der Geruch wurde wieder mehr von Abgasen übertüncht.

Es war wichtig, diese Erfahrung gemacht zu haben, um die Kinder etwas besser zu verstehen. Die Kinder, die im Programm aufgenommen wurden, tragen Uniformen, die von Sponsoren gespendet wurden. Es gibt jedoch auch Kinder, die es leider nicht ins Programm geschafft haben, aber am Nachmittag kommen dürfen, um etwas Englisch und Mathe zu lernen, die Bibliothek zu nutzen oder an Aktivitäten teilzunehmen wie Zirkus oder Malen und Basteln. Diese Kinder haben keine Uniform, sondern tragen in der Regel kaputte Kleidung, die häufig nicht ihren Größen entspricht und unterschiedliche Schuhe oder kaputte Sandalen. Außerdem weiß man nicht, ob sie in ihrem Leben schon eine Dusche gesehen haben oder ob man sie je über Hygiene aufgeklärt hat. Diese sogenannten afternoon kids (Nachmittags-Kinder) kamen also ausnahmsweise schon am Morgen und ich konnte mit ihen in die Bibliothek gehen. Ich sage euch: Würden sich doch Kinder/Schüler in Deutschland so sehr über Bücher freuen! Die Kinder fragten immer erst, ob sie eintreten durften, bedankten sich dann und auch sonst hörte ich noch oft an diesem Tag „Thank you, teacher!“. Manche dieser Kinder waren noch nie in der Schule und konnten daher gar kein Englisch oder sie konnten sprechen, aber nicht lesen und schreiben. Am Vormittag versuchte ich also zum ersten Mal in meinem Leben, Kinder zu alphabetisieren, mit ihnen zu schreiben und zu lesen. Es wurde immer wieder wegen diverser Bücher gerangelt, v.a. aber wegen der Buntstifte und des Spitzers, die ich irgendwann dazuholte, um die Kinder auch schreiben und malen zu lassen. Von den anderen Lehrern wurde ich gewarnt, immer alles zu zählen, was ich herausgeben würde, da viele Dinge sonst eingesteckt werden würden. Alle Kinder wollten mal spitzen und fielen über die Buntstifte her. Ich musste an die Schulkinder in Deutschland denken, die oft mit einem Mäppchen mit der vollen Farbpalette ausgestattet sind und ständig ihre Sachen verlieren oder verlegen. Immer wieder kamen Kinder auf mich zu, umarmten mich, nahmen mich an der Hand, strahlten mich an, bedankten sich. An der Schule sind zur Zeit noch zwei andere Deutsche, die ihr 3monatiges Praktikum für Soziale Arbeit dort machen und drei Holländerinnen, die als Freiwillige helfen. Meistens waren auch die Mädels (fast alle blond) von Kindern umkreist oder trugen eins auf dem Arm oder Schoß.

Am Nachmittag bastelte ich mit den Kindern im Klassenzimmer Fensterbilder mit bunter Pappe und Transparentpapier - wieder ein großes Dankeschön and Sarina und Sanam. Wir bastelten Eier, Hasen, Herzen oder auch Schmetterlinge. Drei Tische à 5 Kindern saßen immer zusammen und sollten sich die Pappe und das Transparentpapier teilen, was sich als sehr schwierig erwies und zu vielfachen Streitereien an den Tischen führte. Gott sei Dank hatte ich drei Scheren gekauft, aber mehr gab es in der Schule wohl nicht, da sie keinen Kunstunterricht anbieten. So mussten sich die Kinder manchmal gedulden, was wieder zu Gezank führte. Klar, wenn man es sonst immer gewohnt ist, für alles zu kämpfen, um gesehen zu werden oder etwas zu erhalten, ist es natürlich schwierig, Dinge gerecht zu teilen. Es war also schön, die Freude zu sehen und mit den Kindern zu arbeiten, aber auch wahnsinnig anstrengend. Von Weitsicht e.V. habe ich ca. 40 recycelte Blöcke mit Stiften mitgebracht und davon an diese Gruppe die ersten 19 Stück verteilt. Ihr könnt euch die Dankbarkeit und Freude der Kinder gar nicht vorstellen. Manche knieten vor mir nieder, als Zeichen des Respekts, und bedankten sich. Alle schrieben ihre Namen auf ihren Block, da wir diese in der Schule behielten, um zu vermeiden, dass diese im Slum gestohlen oder weiterverkauft werden.

Am Ende bekommen die Kinder immer noch einen Becher Porridge, also Haferbrei und verlassen gegen 16 Uhr wieder die Schule. Viele würden vermutlich lieber länger bleiben… Die Schule versorgt die Kinder täglich mit Haferbrei am Morgen, Reis und Bohnen am Mittag und noch einmal Haferbrei am Nachmittag. Ich bin schon gespannt, nächste Woche die richtigen Schulklassen besser kennenzulernen. Hauptsächlich werde ich mit Englisch helfen, basteln&malen und Spiele mit den Kindern spielen.

Aber jetzt ist erstmal ein längeres Osterwochenende und ich bin gerade unterwegs auf meine erste Safari Tour zu den Murchison Falls.

Fun fact:

Als ich am ersten Tag durch die Schule geführt wurde, wurde ich jedes Mal von der gesamten Klasse begrüßt, indem alle Kinder aufstanden und laut im Chor riefen: „Good morning visitor! You are most welcome, feel at home! This is Primary 1 (-7). Our class motto is: Knowledge is power / Always believe in yourself / You can achieve anything you want / …“. Jede Klasse hat also ihr eigens Motto - das Ganze hörte ich 9 Mal und jedes Mal stellte ich mich auch kurz vor.

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Scheku Anwar